Schüchternheit
„Ich war immer schon sehr scheu und vermied allen Umgang. Bücher und Schulaufgaben waren meine einzigen Gefährten. Täglich war ich mit dem Glockenschlag in der Schule und sobald der Unterricht aus war, rannte ich wieder nach Hause – rannte buchstäblich, denn ich konnte es nicht ertragen, mit irgendwem zu reden und zitterte bei dem Gedanken, man könnte sich über mich lustig machen.“ (Gandhi, 1983 S. 9)
Was ist Schüchternheit?
Schüchternheit ist ein Gefühl, welches mit Unsicherheit in sozialen Interaktionen, neuen Situationen und/oder mit unbekannten Personen auftritt.
Menschen, die an Schüchternheit leiden, zeigen sich gehemmt im Umgang mit anderen; gerne halten sie sich im Hintergrund, fühlen sich gegenüber anderen Menschen unsicher und es fällt ihnen schwer, Befindlichkeiten oder Bedürfnisse zu äußern.
Lena geht gerne in den Kindergarten. Dort spielt sie mit ihren Freundinnen und dabei ist sie aktiv, aber bringt keine eigenen Spielideen ein. Wird sie im Morgenkreis gefragt, was sie erzählen möchte, schweigt sie, schaut verlegen auf den Boden. Manchmal nimmt sie ein Bild, welches sie für die Erzieherin gemalt hat in den Kindergarten mit. Sie möchte es ihr geben, schafft es aber nicht. |
Lena zeigt das schüchterne Verhalten nicht nur im Kindergarten, sondern auch bei ihr fremden Menschen. Daheim ist Lena ein ausgeglichenes Kind, welches lebhaft kommuniziert und seine Kompetenzen einbringen kann. Der Kinderarzt, den die Eltern um Rat fragen, sagt „sie ist halt schüchtern“. Reicht das als Antwort?
Wir meinen Nein!
Schüchterne Kinder schränken ihre Kindheit ein, denn sie nehmen nicht wirklich am Geschehen teil. Gerne beobachten die Kinder und trauen sich nicht mitzumachen. Erfahrungen, die zu einer gesunden Sozialisation führen, Kontakte aufbauen und pflegen, aber auch Kontakte ablehnen, all das wird vermieden.
Schüchternheit wächst sich aus, sagt das soziale Umfeld. Ja, meistens wächst sich Schüchternheit aus, nämlich dann, wenn Sicherheit entstanden ist.
Aber, es ist auch möglich, dass aus einer kleinen Schüchternheit eine große Schüchternheit nämlich die krankhafte Schüchternheit entsteht.
Viele Menschen setzten Schüchternheit mit Introversion gleich, aber es handelt sich hierbei um verschiedene Dinge. Eine introvertierte Person ist einfach gerne allein und leidet nicht unter dem Alleinsein. Sie gibt nicht so viel auf die Meinung der anderen und hat aber keine Hemmungen, ihre eigene zu vetreten.
Eltern können ihre schüchternen Kinder unterstützen
Schüchterne, unsichere Kinder profitieren von einer klar strukturierten Umgebung, gleichbleibenden Ritualen und vor allem von aufmerksamen, ihnen zugewandten Bezugspersonen.
Kleine Schritte führen auch zum Ziel:
- Das Kind auf neue ihm fremde Situationen vorbereiten. Dazu kann es hilfreich sein, sich zuerst selbst zu informieren.
- Stehen Ihnen als Eltern die Informationen zur Verfügung, kann das Kind in Rollenspielen auf das Kommende vorbereitet werden. Das kann z.B. der Eintritt in den Kindergarten, in die Schule, ein erster Impftermin oder eine erste Spielsituation mit einem noch fremden Kind sein.
- Inzwischen gibt es eine Fülle von Kinderbücher, die sich mit besonderen Situationen in der Kindheit befassen. Eltern können somit bildlich und stimmlich das Kind vorbereiten.
- Ängstliche Menschen brauchen ein hohes Maß an Sicherheit, um sich einlassen zu können. Rituale und gleiche Abläufe geben diese Sicherheit.
- Das Konzept der offenen Gruppen in Kindergärten ist lobenswert, aber für schüchterne Kinder eine große, manchmal zu große Herausforderung.
- Eltern sollten die richtigen Worte finden, wenn sie mit ihrem Kind über dessen Schüchternheit sprechen. „Du bist halt schüchtern.“ oder „Du hast Angst, dass sehe ich.“ helfen nicht wirklich, sondern bestärken beim Kind das Gefühl der eigenen Schwäche. Bessere Formulierungen wären: „Du bist vorsichtig. Du möchtest erst wissen, was geschieht, bevor du dich einlässt.“
- Wenn Fremde ihr Kind als schüchtern abstempeln wollen, halten Sie dagegen „Wenn Sie unser Kind wirklich richtig kennengelernt haben, dann sagen Sie das nicht mehr. Sie ist ein überaus mutiges Kind.“
- Bieten sie Entlastung an, wenn die Situation überfordernd ist. Bauen sie Brücken: „Du kannst ruhig zuerst schauen, das ist in Ordnung.“; „Verschaffe Dir erstmal einen Überblick.“; „Du willst erst sehen, was eigentlich los ist, bevor Du mitmachst.“ Das Kind ist entlastet und kann so sein eigenes Tempo finden.
„Angst ist per se nicht schlecht, sondern eine ganz normale und lebenswichtige Reaktion auf Neues. Angst ist ein Teil der gesunden Entwicklung eines Kindes. Keine Angst zu haben, ist gefährlich“, erklärt A. Cina (Leiterin des Zentrums für Psychotherapie der Universität Freiburg).
Krankhafte Schüchternheit
Die krankhafte Schüchternheit wird inzwischen als soziale Phobie bezeichnet, die sich vor allem dann äußert, wenn sich die Betroffenen in Gegenwart Dritter befinden, die ihr Verhalten nicht nur beobachten, sondern womöglich auch bewerten und kritisieren könnten.
Daher wird sie als Situationsangst bezeichnet und zählt zu den Angststörungen. Im Katalog psychische Störungen der WHO (Weltgesundheitsorganisation) wird die Situationsangst unter den Ziffern F40-F48 zu den Angststörungen und phobischen Störungen gezählt. Ebenfalls wird hier die Agoraphobie (Menschenscheu) genannt.
„Ungefähr fünf bis zehn Prozent aller Jugendlichen erkranken an einer sozialen Phobie. Soziale Phobie ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen im Jugend – und jungen Erwachsenenalter. Häufig beginnt die Störung in der Kindheit. Je früher der Beginn der Störung desto wahrscheinlicher ist ein chronischer Verlauf“, sagt Frau Prof. Dr. Rita Rosner, LMU München.
Um ihre Angst nicht zu zeigen, eignen sich Betroffene Strategien an, die in der Fachsprache „Sicherheitsverhalten“ genannt werden. Unter Sicherheitsverhalten (englisch: safety seeking behaviour) versteht man ein Verhaltensmodell, welches zur Aufrechterhaltung des Symptoms z.B. Angst beiträgt. Paul Salkovskis, ein britischer Psychologe und Professor für Klinische Psychologie, hat den Begriff des Sicherheitsverhalten geprägt.
Ein extremes Beispiel für Sicherheitsverhalten ist die Schulangst bzw. Schulverweigerung. Untersuchungen haben gezeigt, dass Jugendliche mit diesen extremen Ängsten ein höheres Risiko dafür zeigen, die Schule früher abzubrechen. „Die Störung beeinflusst deutlich die soziale und emotionale Entwicklung. Menschen mit einer sozialen Phobie weisen in Folge häufig eine verminderte Lebensqualität auf. Folgeprobleme wie Einsamkeit, Isolation oder eine unterqualifizierte Tätigkeit im späteren Beruf treten häufig auf.“, sagt Frau Ildiko Kunze, Diplompsychologin LMU München.
Das Sicherheitsverhalten zeigt sich u.a. darin, dass die Betroffenen Blickkontakt meiden, an ihrer Kleidung nesteln, die Haare in das Gesicht fallen lassen, die Kappe tief in das Gesicht ziehen.
Körperliche Merkmale einer sozialen Phobie
Wer kennt nicht das Gefühl von schwitzigen Händen, wenn eine unvorhergesehene Situation eintritt, die wir zu meistern haben? Ein sozial-phobischer Mensch durchlebt eine Fülle von physiologischen Reaktionen, die seine Handlungen einschränken. Das kann ein plötzliches Erröten, ein lautes Schlucken, starker Speichelfluss, Herzrasen, feuchte Hände, unkontrollierte Muskelzuckungen aber auch eine Sprechhemmung bis hin zum situativen Stottern sein.
Neben dieser Vielzahl an äußerlichen Merkmalen, reagiert der Hormonhaushalt und es kommt zu einer erhöhten Ausschüttung von Adrenalin/Noradrenalin, Cortisol und Cortison. Hormone, die zu einer An- und Entspannung gleichzeiteig beitragen. Dauerstress pur!
Adrenalin und Noradrenalin sind lebenswichtige Hormone und Neurotransmitter, die in stressigen oder angstbesetzten Situationen ausgeschüttet werden. Beide Hormone sind auch als Kampf-Flucht-Reflex bekannt sind. Adrenalin hat sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf den Körper. Einerseits kann der Adrenalinstoß die physische Leistungsfähigkeit steigern, auf der anderen Seite kann es zu Angstzuständen, Unruhe und Reizbarkeit führen. Auf Dauer kann es zu psychosomatischen Störungen bzw. Krankheiten wie z.B. Bluthochdruck, Herzrasen, Atembeschwerden, Kopf- und Magenschmerzen oder Ähnlichem kommen.